Michael Fehr:

Lebendige Arbeit und plastische Form

zu Jan Meyer-Rogge's "Aufgebäumtem

Stamm" und anderen plastischen Arbeiten

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Jan Meyer-Rogge hat seit 1977 in Neuenkirchen drei große plastische Arbeiten realisiert, die nicht nur im Werk des Künstlers eine besondere Rolle spielen, sondern, weit darüber hinaus, wichtige Positionen im Verhältnis zwischen Kunst und Natur, ja im Verhältnis zwischen Mensch und Natur markieren. Dies geschah zuerst mit seiner "Pyramide", die 1977 im Rahmen des Symposiums 'Material aus der Landschaft – Kunst in die Landschaft' entstand und leider nicht mehr existiert. Dabei handelte es sich um eine ca. 11 Meter hohe Konstruktion in Form einer vierseitigen Pyramide, die ausschließlich aus unbearbeiteten Birkenstämmen gleicher Länge hergestellt war und noch sehr deutlich Meyer-Rogge Auseinandersetzung mit der der Konstruktiven Kunst erkennen ließ. Doch trat, ganz anders als bei konstruktiven Kunstwerken, die in der Regel von einer prinzipiellen Indifferenz im Verhältnis zwischen Idee (Form) und Material bestimmt sind, bei dieser Arbeit das Material in eine prinzipielle Differenz zur Form, in die es gebracht war. Zwar konnte man ohne Schwierigkeit die "Pyramide" als Form und diese wiederum als Ergebnis einer rationalen Konstruktionsmethode erkennen, doch kamen zugleich und in dem Maße, wie die Regelmäßigkeit der Konstruktion bewusst wurde, die nicht-regelmäßigen Eigenschaften des Konstruktionsmaterials, das Gewachsene der Birkenstämme, aus denen die "Pyramide" gemacht war, zur Anschauung.

 

Die "Pyramide" interessierte daher nicht als Form, sondern als eine Konstruktion mit Natur: als eine Plastik, deren Konstruktionsidee durch das Material, in dem sie realisiert ist, in Frage gestellt wird. So verwies diese Plastik, indem sie Natur einer rationalen Idee subordiniert zeigte, auf das ganz Andere, das organisch Gewachsene, und nahm dabei kritisch Bezug zum Konstruieren, zur Architektur überhaupt.

Demgegenüber entzog sich die Plastik "Aufgeschnittener Stamm" ("Ein Buchenstamm: aus dem Sägewerk zurück in die Landschaft"), ein Jahr später im Rahmen des Symposiums 'Zwei Steine sind nie gleich' entstanden und leider ebenfalls nicht mehr existent, als Form und Konstruktion gänzlich einer vorab bestimmbaren, unabhängig von ihr vorstellbaren Idee. Die Plastik bestand aus vierzehn Bohlen eines der Länge nach zersägten, ungefähr vier Meter hohen Buchstamms, die in zwei Reihen, so wie gewachsen bzw. zersägt, vom Künstler so aufgestellt wurden, dass man gewissermaßen durch den Baum laufen konnte. Form und Konstruktion dieser, aus der Distanz betrachtet, wie ein Schiffssegel anmutenden Plastik standen dabei ganz im Dienst des gewachsenen Materials und erklärten sich aus der Absicht, die Identität des Buchenstammes als Einheit nicht-identischer Teile zur Anschauung zu bringen. Indem die Form der Plastik, eine Art Architektur aus Bohlen, alle Erwartungen des Vorgewussten im Hinblick auf die formale Einheit eines Buchenstammes unterlief, veranlasste sie den Betrachter zu deren Rekonstruktion über die Anschauung des Materials, der untereinander verschiedenen Bohlen.

Die Form und Material dissoziierende Struktur dieser Plastik hielt damit nicht nur den Prozess gegenwärtig, dem der Baumstamm unterworfen worden war - seine Zurichtung zu Material durchs Zersägen -, sondern brachte als Konstruktion zur Anschauung, was für alles Gewachsene charakteristisch ist: eben die Identität von Form und Material.

Die dritte große Arbeit ist schließlich der "Aufgebäumte Stamm", die Meyer-Rogge 1978 im Rahmen des Symposiums 'Weserlust' realisieren konnte, 1979 in Neuenkirchen aufgestellt wurde und jetzt an einem neuen Standort wieder aufgebaut ist. Bevor ich auf diese Arbeit eingehe, möchte ich einige generelle Bemerkungen zum künstlerischen Umgang mit der Natur machen.

 

II.

Gewachsenes und Gemachtes treten fast immer als Gegensätze auf. Das ist in ihrer gänzlich verschiedenen Struktur begründet: Denn das Gewachsene ist eine im Beuys'schen Sinne plastische Masse. Eine Substanz, die sich selbst da, wo sie in fester Form erstarrt, die Gestalt des Fließenden bewahrt: einen Sog entgegen der Schwerkraft verkörpert, der zumal Bäume, wie immer sie gewachsen sein mögen, als ein aufrechtes Nicht-Lastendes erscheinen und insoweit als Inbegriff des Lebendigen wirken lässt. Demgegenüber vergegenwärtigt das von Menschen Hergestellte, das mit der Schwerkraft Gemachte die - wiederum mit Beuys gesprochen - kalte Form.

Unter einem erweiterten Arbeitsbegriff, wie ihn Michel Serres entwickelt hat, lassen sich Gewachsenes und Gemachtes jedoch durchaus subsumieren. Ihre Verschiedenheit tritt dann als nur unterschiedliche Transformation von Unordnung in Ordnung in Erscheinung. Denn zu Arbeit im Sinne von Serres besteht für alle lebenden Organismen, also allen zerbrechlichen und dem Zerfall nahen Ordnungen, keineswegs nur der Spezies Mensch, keine Alternative.

 

 

Ich weiß nicht im Voraus, woraus es hinausläuft, sondern probiere und erfahre am Material die Folgen meines Handelns. Die Teile, aus denen die Skulptur entsteht, ordnen sich dann zu einer Einheit in Balance, in der der Prozess, der ihre Existenz bedingt, erhalten bleibt. Es ist daher auch nicht wesentlich, dass ich die Skulptur selbst aufbaue. Jeder, der sie aufbaut, vollzieht sie selbst."

 

In diesem Statement sind verschiedene Aspekte von Arbeit angesprochen, die für das Werk des Künstlers charakteristisch sind. So ist, zum ersten, Arbeit hier nicht als ein Stoffwechsel mit der Natur, sondern als eine differenzierte Auseinandersetzung mit ihren Kräften angelegt, die allerdings nicht darauf hinaus läuft, diese für bestimmte Zwecke dienstbar zu machen, sondern sie in ihrer spezifischen Wirkung zur Anschauung zu bringen. Das heißt, mit anderen Worten, Meyer-Rogges Arbeiten stehen und entstehen nicht nur unter den selben Bedingungen, denen auch wir unterworfen sind, sondern demonstrieren die natürliche Ordnung als die Bedingung unter der wir überhaupt nur etwas herstellen können – und treten dabei als Balance zwischen verschiedenen Formen von Arbeit, nämlich der Arbeit der Natur und der Arbeit des Menschen auf.

 

 

 

Dabei kommt, zum zweiten, Meyer-Rogges Vorgehen dem Arbeiten im Sinne des wissenschaftlichen Experimentierens in dem Maße nahe, wie seine Plastiken als Ergebnisse einer Methode zu verstehen sind, die nicht nur gedanklich nachvollziehbar ist, sondern unabhängig von ihm selbst praktisch nachvollzogen werden kann. Einmal gefunden und einmal verstanden, um was es geht, kann ein jeder von uns mit etwas Geschick und Mut zum Beispiel die plastischen Arbeiten aufbauen, die hier im Raum stehen. Insoweit sind Meyer-Rogges Plastiken objektiv in dem Sinne wie es wissenschaftliche Versuchsanordnungen sind. Doch unterscheiden sich, zum dritten, seine Arbeiten von solchen Experimenten grundlegend, weil sie nicht darauf abzielen, einen bestimmten Aspekt von Natur zu verstehen (was ja so gut wie immer nichts anderes als die Frage bedeutet, wie sie genutzt oder dienstbar gemacht werden kann), sondern, ganz im Gegenteil, darauf angelegt sind, die Bedingtheit unserer Arbeit und unserer Erkenntnismöglichkeiten an der Natur und ihrer Arbeit erfahrbar machen.

 

 

 

III.

Dies gilt auch für die Plastik "Aufgebäumter Stamm". Sie thematisiert das Gewachsene als eine zeitlich bestimmte Identität von Form und Material in einer dissoziierenden Struktur. Im Unterschied zur der Plastik "Aufgeschnittener Stamm" wird hier jedoch die Einheit des Baumstammes nicht aufgehoben, sondern als eine organisch gerichtete durch eine gemachte Haltekonstruktion negiert. Ergebnis ist eine 'Architektur', die sich selbst in Frage zu stellen scheint, weil ihre konstruktiven Elemente in dem Maße auseinander zu treten scheinen, wie sie aufeinander bezogen werden: Der "Aufgebäumte Stamm" ist ein entgegen seiner Wuchsrichtung aufgerichteter Buchenstamm, der von zweiunddreißig Seilen so gehalten wird, dass ein kegelförmiger Binnenraum entsteht: Folgt man der 'Logik' der Haltekonstruktion zur Spitze der Plastik, gelangt man wider alle Erwartung an die Basis des Baumstammes, und wird der 'Blick gemäß seiner Wuchsrichtung zurück zum Boden geführt.

 

 

 

Im "Aufgebäumten Stamm" geraten also die Statik des organisch Gewachsenen und die des Konstruierten in Widerspruch, und damit wird der Wahrnehmung eine unabschließbare Aufgabe gestellt. Denn für die Anschauung ist nicht mehr eindeutig auszumachen, ob der Baumstamm von den Seilen gehalten wird oder seinerseits die Seile hält. Dieser Widerspruch erscheint dramatisch gesteigert, wenn man die weitere Verkehrung der Statik des Gewachsenen durch die Haltekonstruktion bedenkt. Denn die Haltekonstruktion ersetzt die Funktion des Wurzelwerks und erscheint zugleich als umgekehrte Krone des Baumes, die durch diese gehalten wird.

Der "Aufgebäumte Stamm" ist sicherlich die spektakulärste noch bzw. wieder existierende plastische Arbeit von Jan Meyer-Rogge. Doch ist für sie wie für alle seiner Werke bezeichnend, dass menschliches Maß bewahrt und nicht auf einen Effekt zielt. Vielmehr sind seine Plastiken immer als Ergebnis von gleichermaßen überlegten wie erfahrenen Handlungen eines Individuums zu erkennen, in denen nicht nur auf die spezifischen Eigenschaften der jeweils verwendeten Materialien Rücksicht genommen, sondern diese zu einem Bestandteil eines plastischen Geschehens gemacht werden, das diese Arbeiten in der Tat immer sind:

 

 

Meyer-Rogges Plastiken sind keine willkürlichen Konstrukte, die anstelle von Natur als Natur auftreten, sondern buchstäblich Er-Findungen eines künstlerisch-investigativen Geistes, die unter den Bedingungen der Natur als ein spezifischer Ausgleich unterschiedlicher Materialien, Strukturen und Kräfte entstehen.Meyer-Rogge steht damit in einer Tradition, die in der Kunst weniger eine Möglichkeit der Selbstverwirklichung als vielmehr dasjenige menschliche Handeln sieht, dessen Ziel die Anschaubarkeit der Gegenstände, die sie herstellt ist. Diesem Verständnis nach ist das künstlerische Arbeiten eine eigene Erkenntnisform, die die Bedingtheit des Erkennens und Urteilens zu reflektieren und die Klarheit einer Erkenntnis zu steigern vermag, ohne sie auf zwar eindeutige, aber unanschauliche Begriffe zu bringen. Mit Heinrich von Kleist gesagt: "Man könnte die 'Menschen in zwei Klassen abteilen, in solche, die sich auf eine Metapher verstehen (und) in solche, die sich auf eine Formel verstehen. Deren, die sich auf beides verstehen, sind zu wenige, sie machen keine Klasse aus."

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