Im Punkt des Gleichgewichts
Wenn ich einen Stahlstab auf meiner Finger- spitze balanciere, ist mein Blick ständig auf die Spitze des Stabes gerichtet. Auf jede Ab- weichung von der Senkrechten reagiere ich mit einer Gegenbewegung am unteren Ende des Stabes und halte ihn so zwischen Stehen und Fallen aufrecht. Das klappt nur, wenn es mir gelingt, meine Bewegungen und die Be- wegungen des Stabes zu koordinieren. Ich handle dabei unbewusst und mechanisch, wie wenn ich gehe oder laufe und dabei die Pendelbewegungen der Arme nicht bedenke.
Wenn ich aber versuche, den Stab mit verbun- denen Augen auf meiner Fingerspitze zu balan- cieren, bricht das labile Gleichgewicht zusam- men. Es ist nicht möglich, den Stab auch nur für kurze Zeit zu balancieren, es sei denn, ich wechsle den Stab von der Senkrechten in die Waagerechte, ertaste die Mitte des Stabes und lege ihn im Waagepunkt quer auf meinen Finger. Dieser Vorgang geschieht nicht mehr automatisch, ich stelle das Gleichgewicht bewusst her.
Solche Erfahrungen am eigenen Körper sind mir wichtig beim Entwickeln meiner skulp- turalen Balancen, bei denen es ebenso um ein Zusammenwirken aufeinander abgestimmter Kräfte geht. Der Arbeitsprozess verläuft nicht einheitlich. Ich weiß nicht im Voraus, worauf es hinausläuft, sondern probiere und erfahre am Material die Folge meines Handelns.
Wenn es gelingt, den Moment zu erkennen, in dem das Material beginnt, sich selbst zu organisieren, entferne ich mich schrittweise aus dem Vorgang und überlasse es jetzt dem Material zu handeln.
Die Teile, aus denen die Skulptur entsteht, ordnen sich dann zu einer Einheit in Balance, in der der Prozeß, der ihre Existenz bedingt, erhalten bleibt.
Es ist daher auch nicht wesentlich, daß ich die Skulptur selbst aufbaue. Jeder, der sie aufbaut, vollzieht sie dann selbst.
aus: Jan Meyer-Rogge: Im Punkt des Gleichgewichts, in: Michael Fehr (Hrsg.): Jan Meyer-Rogge. Balance of Power. Plastische Arbeiten 1977-1994, Nürnberg 1994, S. 69.
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Im Punkt des Gleichgewichts III, 1986/1988
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