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Lothar Romain:

Eröffnungsrede anlässlich der Ausstellung

"Jan Meyer-Rogge: Skulpturen" - 4.4.2003

im Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen

 

Gezeiten sind ein auf physikalische Gesetze zurückzuführendes Phänomen. Die Anziehungskraft von Mond, aber auch von der Sonne bestimmen das auflaufende und ablaufende Wasser, das wir Ebbe und Flut nennen. Aber Gezeiten sind viel mehr als der sichtbare Ausdruck der Wirkung von Schwerkraft, wie sie von anderen Himmelskörpern auf unsere Erde einwirkt: Gezeiten prägen das Leben der Fauna und Flora samt des Menschen an den Küsten, Gezeiten sind Naturereignisse und als solche längst schon auch zu Metaphern des Lebens geworden. Ihr Wechsel als Ausdruck nicht nur des individuellen Lebenslaufes, sondern auch als eine Vorstellung von Geschichte: das gleichmäßige Auf und Ab und die Wiederkehr des Ähnlichen. In den Gezeiten gibt es einen Moment, den man Stillwasser nennt. Jetzt sind die gegeneinander wirkenden Kräfte von Ebbe und Flut gleich stark, so daß sie sich für eine kurze Weile aufheben, ehe sich dann die eine oder andere Gezeitenform durchsetzt.

 

„Gezeiten“ heißt der Titel einer der hier ausgestellten Werkgruppen von Jan Meyer-Rogge, und „Stillwasser“ hieß ein früherer Arbeitszyklus, an den die „Gezeiten“ ausdrücklich anknüpfen. Die Titel wollen selbstverständlich keine Naturbeschreibung ankündigen, aber sie sind doch mehr als nur eine schöne Metapher.

Sie weisen vielmehr auf Analogien hin. Plastiken z. B. auf  den Punkt des Stillwassers gebracht. Das ist der Punkt zwischen Bewegung und Ruhe, der Punkt äußerster Gespanntheit zugleich, da die Kräfte aufeinanderprallen und noch keine Richtung dominiert.

 

Jan Meyer-Rogges „Stillwasser“-Zyklus, ja im Prinzip alle seine plastischen Arbeiten zielen eben auf dieses Phänomen und seine ästhetischen Konsequenzen. Da sind z. B. drei und mehr Stahlstäbe im Raum so ineinander gesteckt, daß ihre gegeneinander und miteinander wirkenden Kräfte sie in der Balance halten. Dafür gibt es nur einen möglichen fruchtbaren Moment, nur einen Punkt, der den Bestand solcher Stahlgebilde garantiert. Auf den Raum bezogen, am Boden in Punkten nur sich aufstützend, tragen sich die Plastiken gegenseitig in der Balance.

 

Sechs Stäbe im Raum (Orion) 1980  

 

Der Zyklus „Gezeiten“ überführt ihn vom extremen Punkt des Stillstandes in den der wieder

kehrenden, einander ablösenden, aber eben nicht mehr aufhebenden Bewegung.  

         Gezeiten III 1987/88

 

 

 

Gezeiten VI 1998/90

Ein Halbring aus geschmiedetem Stahl stützt sich an einem Punkt auf einen identischen anderen, um ihm am entgegengesetzten Punkt zu unterliegen: ein Kreis wird so in zwei Ebenen überführt und in eine auflaufende und eine ablaufende Bewegung. Ebenfalls zwei identische Halbkreise aus Stahl sind ein wenig gegeneinander verrückt  parallel zueinander als nach oben offene Bogenformen aufgestellt. Über ihre jeweils entgegengesetzten Enden ist eine Stahlstange gelegt, deren Gewicht den Schwerpunkt der Halbkreise verlagert und ihre nicht belasteten Enden nach oben drückt.

 

 

Oder zwei weitere Stahlhalbkreise sind so aufeinander gesetzt, daß der eine die Umkehr des anderen ist. Ihre an einem Punkt aufeinander lastenden Gewichte verlagern den bisherigen Schwerpunkt der Einzelteile und schaffen einen neuen Moment des Ausgleichs in einem nun gemeinsamen Schwerpunkt.

 

Gezeiten I 1987/88
(Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen)

 

Die Beispiele lassen sich so fortführen.

 

Jan Meyer-Rogges Plastiken entstehen nicht aus kühner Formerfindung, die der Weltenmechanik und dem Lauf der Natur eine eigene Gesetzlichkeit und ein neues künstliches Dasein entgegenstellt. Diese Plastiken arbeiten mit den Gesetzen und Energien der Natur, ja bringen diese erst zur Anschauung, indem sie ihre Wirkung in Formzuständen bzw. -balancen artikulieren.

 

Das Vokabular ist bewußt auf einfachste Formen reduziert: Stahlstäbe, Stahlrollen, geschmiedete Stahlringe, kleine und große Stahlwinkel, geometrische Formen, die geteilt werden, einander aufgelegt, ineinander geschoben, verkantet, sich an Punkten berührend und gegenseitig tragend, so neue Konstruktionen und architekturale Gebilde schaffend. Die ursprünglichen Ausgangsbedingungen werden dabei nicht verheimlicht oder von den neuen Gegebenheiten verdrängt. Diese Plastiken legen ihre Bedingungen und den Prozeß ihres Entstehens ohne Einschränkung offen, ja gewinnen erst aus dieser Unbedingtheit ihre Kraft und Spannung.

„Ich glaube, es ist für die Plastik von Meyer-Rogge charakteristisch, daß sie nichts darstellen, was sie nicht faktisch vollziehen“, hat Max Imdahl einmal zu Arbeiten von Jan Meyer-Rogge gesagt: „Gezeigt werden nicht Darstellungen von Balance, in diesen Arbeiten sind vielmehr Darstellung und reale Balance ununterscheidbar.“Das gilt, nicht nur auf die Balance bezogen, auch für Zyklen wie „Gleichgewicht, Balance und die Unruhe darin“, wie „Architektur des Gleichgewichts“ oder „Im Punkt des Gleichgewichts“.

 

"Jan Meyer-Rogge. Aktuelle Arbeiten", 2003 Karl Ernst Osthaus-Museum, Hagen

 

Ob modellhaft klein oder als Großplastiken im Innen- und Außenraum: es geht um das Generalthema „Balancen“, aber nicht nur im Sinne der Schwerkräfte und des Auslotens ihrer äußersten Punkte der Ruhe, die auf diesen gebracht immer auch das Moment der Unruhe in sich trägt, sondern ebenso um Spannungsabläufe und Spannungsmomente von einander entgegenwirkenden, miteinander korrespondierenden, von gegenläufigen, aufeinander einwirkenden, ja wie in Weise der Gezeiten sich auf- und abbauenden Formen.

 

Diese offenen Gebilde weisen auf nichts hin, was sie nicht selbst darstellen, sind weder Modell noch Metapher für etwas außerhalb ihres eigenen Seins, sondern Gebilde aus eigener Kompetenz und Legitimation und damit zugleich Selbstdarstellung der Gesetze, nach denen sie sich so oder so verhalten müssen. Was die Verschiebung der Schwerpunkte im gegenseitigen Ausbalancieren betrifft, ist dieser Prozeß jedermann einsichtig. Nicht mehr und nicht weniger als den Punkt der Ruhe zwischen entgegenwirkenden Bewegungen zu finden, ist ein fundamentales Ziel dieser Arbeiten. Aber sie führen das Thema des Ruhepunkts als den Moment äußerster Gespanntheit weiter: sie erweitern die plastischen Aspekte um die Frage nach Bewegungsabläufen und deren möglichem Ausgleich, auch um deren Abfolge bzw. Überleitung auf verschiedenen Ebenen, damit verknüpft die Selbstdarstellung so fundamentaler plastischer Ereignisse wie Lasten und Stützen, Liegen und Stehen, Gewichten und Ausgleichen. Die Elemente bauen einander auf, spannen durch die Konzentration auf die einzig möglichen Punkte der Balance und entspannen zugleich durch gegenläufige Bewegungen oder Winkelrichtungen.

Zwei Winkel um eine positive Ecke 1986/88

 

Nichts an diesen Arbeiten ist bloße Spekulation, nichts auch dem Zufall zu verdanken; denn die Kräfte, auf die sie sich aufbauen, sind unumstößliche und permanente, die man ohne künstliche Gegenkräfte nicht aushebeln kann. Um die fundamentierenden Gesetzmäßigkeiten und Kräfte geht es ausdrücklich in diesen Arbeiten.

Sie wollen die Prozesse, die von ihnen ausgelöst werden, das Einwirken aufeinander und die dadurch bedingten Verschiebungen z. B. in der Lastenverteilung sichtbar machen, wollen an den Bewegungsformen der Plastik selbst den Energieaustausch visualisieren, der dort stattfindet, und offenlegen, welch äußerst gespannter und zugleich heikler, weil extrem gefährdeter Punkt derjenige der Balance ist.„Beruhigte Bewegung ist der Punkt des Gleichgewichts“, hatte Jan Meyer-Rogge einmal zu seinem Zyklus „Stillwasser“ notiert. Das gilt in Fortsetzung auch für andere Werkzyklen, wobei – wie gesagt – im Spannungsfeld des Gleichgewichts immer auch ein Moment der Unruhe mitwirkt – ausdrücklich thematisiert in dem Zyklus „Gleichgewicht, Balance und die Unruhe darin“: die Unruhe sowohl durch die unterschiedlichen Formelemente z. B.

 

Hommage á Max H. Mahlmann, 2000

 

von Ring und Flachstab oder Ring und Kreisscheibe als auch durch deren Anzahl: zwei wären der verknappteste, auf den einzigen Punkt gebrachte Ausdruck der Balance, während drei Elemente trotz Gleichgewicht und Balance eben jene gewollte Unruhe im stabilen und zugleich doch höchst fragilen plastischen Gebilde erzeugen.

 

 

Gleichgewicht, Balance und die Unruhe darin II/I 1989/88

 

Die Visualisierung der wirkenden Kräfte, die als Grundbedingungen und Grunderfahrungen auch unser Leben prägen, ist eine ihnen eigene Qualität dieser Arbeiten. Aber sie wollen selbstverständlich nicht didaktische Demonstrationen physikalischer Bedingungen sein, sind keine Lehrmodelle, sondern ästhetische Ereignisse.Zwar fallen in ihnen, wie Imdahl sagt, Darstellung und Realität in einem Punkt zusammen, aber in Bezug auf die Darstellung ist ihre Form und ihre ästhetische Erscheinung nicht gleichgültig. Die Wahl der Konstellationen, unter denen die physikalischen Kräfte freigesetzt werden, ist von entscheidender Bedeutung; denn geht es doch um nichts weniger als unter den vielen möglichen Momenten denjenigen der größten Fruchtbarkeit herauszufinden, wo sich die Spannungsabläufe und deren Ausgleich als ein auch formaler Prozeß, in der Balance als formales Ereignis darstellen. Und sie artikulieren, indem sie als ein offenes plastisches Gebilde sich gegenseitig halten, daß Balance und Gleichgewicht nicht grundsätzlich identisch sind, sondern zwei eigene Kategorien, die gemeinsam wirken. Je einfacher die Bauelemente, um so erstaunlicher, erregender stellen sich die Beziehungen dar, in die sie zueinander treten: sie tun das in aufwandloser Schönheit, ohne Koketterie, ohne Maske, ohne Schein. Daß sie sich so verhalten, ist wesentlich physikalisch bedingt, wie sie sich formbildend verhalten, geschieht nach ästhetischen Gesichtspunkten.

Dabei ist die Erscheinungsform nicht eine Größe mathematischer Berechnung, sondern Ergebnis eines Ausprobierens, das gewiß gesteuert wird von den vielen Erfahrungen, die der Künstler inzwischen gewonnen hat, die aber unter jeweils neu gestellten Bedingungen neu erprobt werden müssen. Sicherlich kann man im Nachhinein den vollzogenen Prozeß zurückverfolgen und begründen, warum sich diese oder jene Konstellation ergeben hat. Aber sie ist als Anspruch nicht schon in den Dingen selbst angelegt gewesen, sondern vom Künstler erst erdacht und unter seinen Bedingungen artikuliert. Und diese sind so formuliert, daß wir der Veranschaulichung mit Genuß und mit höchster Aufmerksamkeit folgen, weil wir ihn in dieser Verbindlichkeit und zugleich auch aufregenden, das Besondere im Allgemeinen betonenden Ereignisform noch nicht gesehen haben, ja nichts von ihm ahnten, auch wenn sich schließlich alles als ein Vollzug von Gesetzmäßigkeiten darstellt.

 

Gleichgewicht, Balance und die Unruhe darin III 1991/92

 

Jan Meyer-Rogges Plastiken gehören von ihrem Vokabular her zweifellos in die Tradition der konkreten Kunst, aber sie gehen doch höchst eigene Wege, sind Konstrukt und zugleich Teil der Naturgesetze – ein wie gesagt „besonderer Teil“, als immer wieder einmaliger Glücksfall herausgehoben. Man kann den auf den Punkt gebrachten, austarierten und zugleich doch labilen Zustand einer Plastik nicht beliebig verändern, ohne das Ganze zu zerstören: die erreichte Balance zwischen unterschiedlichen Kräften ist ein schmaler Gipfelpunkt, kein breites Aktionsfeld im möglichen Gleichgewicht der Elemente.

 

 

Das erklärt auch, warum diese Arbeiten nichts Didaktisches an sich haben und nichts bloß Instrumentales. „Weder ist er bloß Ingenieur tektonischer Modelle (dazu ist er zu gläubig)“, hat Gerhard Auer über den Freund Jan Meyer-Rogge geschrieben, „noch der Geometer cartesianischer Ordnungen (dazu ist er zu sinnesgläubig). Die Artefakte aus seiner Werkstatt erinnern ein wenig an jene glückliche Zeit, als Kunst, Wissenschaft und Handwerk sich noch
in einem Gegenstand treffen konnten.“

 

Michael Fehr hat auf etwas ähnliches hingewiesen, als er die Arbeit in eine zwar ferne, aber nicht abwegige Beziehung zu der mittelalterlichen neuplatonischen Universaliendiskussion brachte, die von dem Grundsatz ausging, daß die Begriffe in den Sachen selbst lägen. Hier eröffnet sich gewiß ein weites Feld von Interpretationsmöglichkeiten über das Zusammengehen von Sein, Anschauung des Seins und die Begriffe der Seinstheorie: ein breiter Weg, der nicht nur ins philosophische, sondern gewiß auch existenzielle Umfeld dieser Arbeiten führt. Aber man kann sich auch anders heranwagen, über die unterschiedlichen Emotionen, die diese Arbeiten auslösen – von der Bewunderung für die freien Raumzeichen, die sich aus der Interaktion der Teile ergeben, bis hin zu den leisen Ängsten, durch eine unbedachte Berührung die labile Balance zum Einsturz zu bringen.

Balance of Power 1988
(Hamburger Kunsthalle)

Die Plastiken beanspruchen nicht nur die Ratio, sondern auch die Gefühle – einerseits das Erkennen, wie innerhalb der allgemeinen physikalischen Strukturen unserer Realität sich eine unendliche Fülle von Besonderheiten ausbilden läßt, und andererseits das damit verbundene Glücksgefühl, sich innerhalb der allgemeinen Bedingungen dennoch frei und spielerisch bewegen zu können.

Auch dafür sind die Plastiken anschauliche Beispiele. Und nicht zuletzt – bei aller Identität der Darstellung mit dem Dargestellten – bleiben auch für diese Arbeiten die existenziellen Metaphern, die sich – wie anfänglich angedeutet – z. B. mit dem Thema „Gezeiten verbinden. Das gilt nicht nur für die Literatur, sondern auch für die Kunst. Man wird aus den Plastiken keine Botschaften erfahren wie aus einem codierten Text, aber man wird von ihnen und den durch sie vermittelten Erfahrungen ausgehend in andere Lebensbereiche überwechseln können, ohne die hier gemachten Erfahrungen zu revidieren oder gar aufgeben zu müssen und ohne sich dort völlig fremd zu fühlen.

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