Im Wechsel der Gezeitenströme Ebbe und Flut tritt wenige Augenblicke Stromlosigkeit ein. Das Wasser »steht still« (M.-R.). Diesen Stillstand instrumentiert der Künstler mit zwei identischen Kurven, wobei er deren Identität unterdrückt. Man geht durch die Kurven ohne zu merken, dass sie »eins und doppelt« (Goethe) sind und eine »Linie der Liebe« bilden, deren Übereinstimmung sich auf den Punkt der Auflage konzentriert.

Allmählich entdeckt die sinnliche Wahrnehmung, daß die beiden Kurven ein offenes, revozierbares Ganzes bilden, welches die Hälften einer S-Kurve enthält. Das Ergebnis ist eine gebrochene, geknickte Kurve, die am Drehpunkt ihre Richtung beliebig ändern kann. Darin läßt sich Meyer-Rogges diskreter Beitrag zum Yin-Yang-Symbol ausmachen: er vollzieht nicht die alte, homogene chinesische Kurve (die in einen Kreis eingeschrieben ist), sondern eine, die unserem Kulturkreis entstammt, der ebenfalls in komplementären Gegensätzen denkt, diese aber aus diskontinuierlichen Prozessen hervorgehen läßt. So gelangen uralte Einsichten zu überraschenden Formaussagen: Die Einsicht, daß in der Ruhe die Bewegung wartet, in der Begegnung die Trennung, im Stehen das Fallen, in den Teilen ein neues Ganzes – also in all dem auch die Gegenbewegung, der Gegensinn. Dafür bietet sich Heraklits Formel an: »der Weg hinauf und hinunter – derselbe.«

 

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